Zeigen und zeigen lassen, das ist das Motto der weltweiten Freerunning-Community. Konkurrenz? Gibt es nicht. Sie alle sind eine einzige grosse, Grenzen überschreitende Familie. Sowohl im geografischen als auch sportlichen Sinne. So unterschiedlich diese Sportler sein mögen, in einem Punkt sind sich alle einig: Man hört nie auf dazuzulernen.
Mikail Tasdelen ist einer der vielen Jungen, für die Freerunning längst mehr als nur ein Sport ist. Es ist eine Lebenseinstellung, das Team seine zweite Familie. Sport verbindet. Alter, Bildungsstand oder Herkunft spielen dabei keine Rolle. Mikail, vierzehn Jahre alt, ist gebürtiger Türke, lebt jedoch seit frühester Kindheit zusammen mit seinen Eltern und den zwei Schwestern in Suhr und besucht mittlerweile die dritte Realschulklasse. Er wirkt ziemlich locker und sympathisch, als ich ihn an einem Montag Anfang Oktober vor der Schule treffe. Pünktlich auf die Minute und standesgemäss in weiten Trainerhosen und T-Shirt tritt er mir in lässigem Gang gegenüber. Seit mittlerweile knapp zwei Jahren verwendet Mikail seine gesamte Freizeit darauf, zu trainieren. In der Halle oder im Freien, im Team oder alleine, in der Schweiz oder im Ausland. Wo immer möglich, überspringt er Mauern, rennt über Häuserdächer und überwindet (fast) alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen. Ein Freerunner eben. Angst hat er längst nicht mehr. Das überlässt er seiner Mutter. Aber es sei gut, immer eine gesunde Portion Respekt zu haben und den Hindernissen mit Verstand entgegenzutreten, meint Mikail. Was passieren kann, wenn man sich überschätzt, hat er kürzlich am eigenen Leib erfahren müssen. Das Ziel hoch gesteckt, das Risiko annehmbar, doch der Optimismus wohl etwas zu gross: Anstatt auf den Füssen, landete er auf dem Kopf: Gehirnerschütterung. Mir scheint jedoch, er nehme das recht gelassen. Allgemein scheint er nicht der Typ zu sein, der etwas plant oder Unfälle und Verletzungen allzu ernst nimmt.
Seit einiger Zeit ist Mikail Nachwuchsmitglied des Teams «NurfCH». Trainer oder Chef gibt es in diesem Sinn keinen. Alle sind sie gleichberechtigt. Natürlich gibt es solche mit mehr Erfahrung, erklärt mir Mikail, jedoch gibt es keinen im Team, dem die anderen in irgendeiner Art und Weise untergeordnet sind. Genau das schätzt er so sehr. Diese Freiheit, das Miteinander, der entspannte Flow, der sich durch die ganze Community zieht. Alle Freerunner-Herzen schlagen eben in irgendeiner Form gleich.
Für Mikail, der lieber selber kocht, als Pizza bestellt, und der Tee lieber mag als Kaffee, ist Freerunning nur eine Etappe auf dem Weg zum grossen Ziel. Er will später hauptberuflich Stuntman sein. Zuerst jedoch wird er wohl eine Lehre zum Automatiker machen, um festen Boden unter den Füssen zu haben, wenn er dann einmal ins eher unberechenbare Stunt-Business wechselt.
Inspiration für seine Runs holt Mikail sich bei anderen Freerunning-Cracks im Internet. Ob nach dem Aufstehen, vor dem Ins-Bett-Gehen oder über den Mittag: Sein Smartphone, eine schnelle und zuverlässige Möglichkeit, neue, riskantere oder noch ausgeklügeltere Tricks zu entdecken, ist immer eingeschaltet. Apropos riskant: Ist es nicht gefährlich, einfach selbst mal drauflos zu probieren? «Geht so», meint Mikail. «Klar ist es immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Aber das muss man einfach in Kauf nehmen. Jeder sammelt seine Erfahrungen. Da gehört es dazu, auch mal auf die Nase zu fallen. Hauptsache, man steht wieder auf.» Man lerne, führt er weiter aus, sich selber immer besser einzuschätzen, müsse halt auch mal kürzertreten, sich Grenzen setzen, um keine Verletzung zu riskieren. – Klingt ganz vernünftig. Und jedenfalls für Mikail scheint das Konzept auch aufzugehen.
Falls sie ihn also einmal bei einem waghalsigen Sprung über Ihr Carport-Dach oder die Gartenmauer beobachten, machen Sie sich keine Sorgen und rufen Sie nicht die Polizei. Freerunner wie Mikail sind weder Einbrecher noch Selbstmörder. Im Gegenteil: Sie wissen genau, was sie tun.
Ursina Mühlethaler
Freerunning & Parkour
«Le Parkour» – auch «Die Kunst der Fortbewegung» genannt – ist die vom Franzosen David Belle (*1973) erfundene Sportart, Hindernisse durch einfache Bewegungsabläufe möglichst effizient zu überqueren. Es geht dabei vor allem um den Einklang von Körper und Geist. Auch deshalb ist Parkour mehr als nur eine Sportart: eine Lebenseinstellung.
Beim Freerunning hingegen, das sich aus Parkour entwickelt hat und als dessen Erfinder Sebastien Foucan genannt wird, legt man den Fokus mehr auf Akrobatik und Figuren, die man beim Überwinden der Hindernisse vollführt. Dabei sind ausserdem rein der Ästhetik dienende Tricks und Saltos erlaubt, denn es geht mehr um Performance als um die schnelle Fortbewegung.
Matthias Egger
Der 21-jährige Suhrer Fotograf ist einer der Gründer des Parkour- und Freerunningteams. Er kam durch Youtubevideos zu diesem Sport. Zuerst sah er nur zu, dann begann er für sich zu trainieren, und später rief er das Team Nurf ins Leben. Er schätzt den internationalen Austausch, das Reisen und die grosse, familiäre Community sehr.
Nicolas Roth
Nicolas (22) ist seit den Anfängen Mitglied des Teams. Er leistet zurzeit Zivildienst, danach wird er sein Studium beginnen. Neben dem Training mit dem Team spielt er auch gerne Tennis und Beachvolleyball und interessiert sich für Webdesign.
Florian Sager
Er wohnt in Aarau, ist 21 und absolviert zurzeit ein Praktikum der sozialen Arbeit. Für ihn ist das NurfCH-Team seit knapp einem Jahr wie eine zweite Familie. Er hatte sich schon lange mit Freerunning beschäftigt und kannte viele Mitglieder des Teams bereits länger, entschloss sich jedoch erst vor zweieinhalb Jahren, in diesen Sport einzusteigen.
Florian Hertig
Florian, 22 Jahre alt ist Mitbegründer des Teams. Er hat eine Ausbildung zum Automatiker abgeschlossen und befindet sich jetzt im Studium. Trotzdem bleibt noch genug Zeit, um mehrere Male pro Woche mit dem Team und zusätzlich allein zu trainieren.
Shemaiah Siegenthaler
Eines der jüngeren Mitglieder des Teams. 17 Jahre alt und Suhrer. Er besucht die Alte Kantonsschule Aarau. Erst seit 2014 ist er Teil des Teams, hat jedoch schon früh angefangen, sich für den Sport zu interessieren. Er betätigt sich zusätzlich im Geräteturntraining.
Justin Irawan
Das Jüngste Mitglied. Der Bezirksschüler ist dreizehn Jahre alt und frisch im Team.
Wie Viele kam er durch Social Media auf die Idee, sich in diesem Sport zu engagieren. Er wurde 2014 vom Team NurfCH als Nachwuchs-Freerunner aufgenommen. Ihm gefällt vor allem die enorme Freiheit des Sports.
Alle Fotos von Matthias Egger