Archiv für den Monat Dezember 2014

Vom Geschick, nie den Faden zu verlieren

Nähen, häkeln, stricken. Was so manchen bis an den Rand der Verzweiflung bringt, ist für sie ein Kinderspiel. Nadel, Faden, Schere und Bügeleisen sind zu ihren stetigen Begleitern geworden. Stich für Stich näht sich Michal Wälti durch ein Leben, das geprägt ist von Kreuzstich, Vorstich und Saumstich.

Draussen ist es kalt, der Winter hält langsam, aber sicher Einzug. Der stetig fallende Regen scheint mehr und mehr zu Schnee zu werden, und die Temperaturen halten sich gerade noch so über dem Nullpunkt. Michal Wälti lässt sich von all dem nicht beeindrucken. Trotz des stumpfen Graus und des zähen Nebels ist sie optimistisch, fröhlich und gesprächsfreudig. Das sei eigentlich immer so, sie habe fast immer gute Laune, meint sie. Dies fällt mir jetzt, wo ich im warmen Wohnzimmer der Familie Wälti sitze, auch nicht mehr so schwer. Und überdies ist ihre gute Laune ansteckend. «Grundsätzlich», sagt sie, «bin ich allem und jedem gegenüber offen.» Man glaubt es ihr aufs Wort. Michal, 17 Jahre alt, ist eine herzliche und motivierte junge Frau. Was alles Technische anbelangt, ist sie vollkommen talentfrei, dafür aber handwerklich umso geschickter. Und am liebsten im Zusammenhang mit Textilien. Eben: Nadel, Faden, Schere. Und Bügeleisen. – Ja, Michal ist Schneiderin. Das heisst, früher wäre sie Schneiderin gewesen; heute aber, im 21. Jahrhundert, heisst das fachmännisch Bekleidungsgestalterin. Fachrichtung Damen. Versteht kein Mensch, findet Michal. Ihr ist die frühere, weniger stylische Bezeichnung lieber. Schneiderin – kurz und bündig. So oder so ein eher ungewöhnlicher Beruf für eine junge, moderne Frau, stellt man sich doch unter dem Begriff ganz anderes vor: das tapfere Schneiderlein, Frauen auf dem Ofenbänklein, rüstige Rentnerinnen beim lismen.
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Michal schmunzelt. Es ist wohl nicht das erste Mal, dass sie mit solchen Klischees konfrontiert wird. «Zu meiner eigenen Verwunderung», sagt sie, «scheint dieses negative Hausfrauen-Image heute gar nicht mehr zu existieren. Für die meisten Leute in meinem Umfeld jedenfalls war meine Berufswahl überhaupt kein Problem. Keine mitleidigen Blicke, keine doofen Sprüche. In meinem Freundeskreis waren alle positiv überrascht, und heute sind sie begeistert von dem, was ich mache. Vor allem stehen meine Eltern voll und ganz hinter mir.» Selbstverständlich ist das alles nicht. Weiterlesen