Archiv des Autors: eli wilhelm

Dem Bach entlang

Hana Solenthaler fotografierte die Umgebung des Baches. Für uns, die am Bach „einfach so“ spazieren, wird die Umgebung in ihren Spiegelungen ganz fremd – könnte Schweden sein? Oder Holland? Aber den Fischreiher erkennen wir alle. Allerdings haben wir noch nie sein hübsches Bauchgefieder so deutlich gesehen. Wie schön!

«alt & jung»

Nach einem Jahr der Worte folgt ein Jahr der Bilder

Für das Jahr 2024 hat die Kulturkommission Hana Solenthaler zur Dorfschreiberin gewählt. Hana Solenthaler ist Bewegungspädagogin und Fotografin. Geboren ist sie 1961 in Brno, Tschechische Republik. Sie lebt seit 42 Jahren in der Schweiz, davon 15 in Aarau. Als Bewegungspädagogin arbeitet sie seit 26 Jahren an der Migros Klubschule Aarau und sorgt dafür, dass auch Suhrer Frauen und Männer fit bleiben.

Das Interesse an Tanz, Bewegung, Körpern und Menschen führte Hana Solenthaler zur Bewegungspädagogik und inspiriert sie seit 20 Jahren auch als Fotografin. Die Fotografie ist für sie ein Instrument, um eine Geschichte zu erzählen, Emotionen und Stimmungen einzufangen.

Die Fotografie ist ihre grosse Leidenschaft. Sie fotografiert ausschliesslich digital und bevorzugt in Schwarzweiss. Sie lässt sich gerne von Gefühl, Nähe und Interaktion leiten.

Im Laufe ihres Dorfschreiberjahres werden Fotobeiträge zu verschiedenen Themen im SuhrPlus erscheinen. Zudem werden während des Jugendfestes einige ihrer Fotos in einer Ausstellung im Mehrzweckraum des Museums Suhr zu sehen sein.

«alt & jung»

Das Projekt, das sie zurzeit verfolgt, nennt sie «alt & jung». Sie portraitiert Suhrerinnen und Suhrer.
Hier ist es ihr Vater, den sie alt und jung porträtierte – ein Blick in die Tiefe eines ganzen Lebens…

«Ich freue mich sehr darauf, Suhr ein Jahr lang als Dorfschreiberin zu begleiten und meine Eindrücke fotografisch einzufangen.»

Hana Solenthaler

Dietiker im Dietiker

Zum Abschluss seines Amtsjahrs als Suhrer Dorfschreiber trat Pino Dietiker in dem Lokal auf, das so heisst wie er: Am 15. September 2023 las er im Restaurant Dietiker einen Text über den Familiennamen Dietiker.

Bei seiner dritten und letzten Lesung als Suhrer Dorfschreiber erzählte Pino Dietiker von seiner Recherche nach Verwandten und Namensvettern, die ihn vom Friedhof in Suhr bis in die gefährlichsten Ecken Berlins, vom Fussballplatz im namensstiftenden Dietikon bis in den Dorfladen seines Heimatorts Thalheim führte. Er berichtete von seiner Entdeckung, dass er zuhause seit Jahren auf einem Designerstuhl der Möbelfirma Dietiker sitzt, und er bezifferte die «Dietiker-Dichte» von Suhr: Während 0,71 Prozent aller gegenwärtig in Suhr Begrabenen Dietiker heissen, tragen von den momentan in Suhr Lebenden nur 0,15 Prozent den Namen. Daraus abzuleiten, dass die Dietiker ein aussterbendes Geschlecht seien, wäre jedoch ein statistischer Kurzschluss, so der Autor Dietiker im Restaurant Dietiker.

In der Mitte von Suhr

„Suhr Süd“ am einen Ende, das Brügglifeld am anderen – beide hat Pino Dietiker bisher untersucht und – kann man das so sagen? – in Literatur verwandelt.

Hier bei der Lesung im Restaurant Sportplatz, die mit Bratwürsten endete. Der wunderbare Text wird leider woanders und nicht hier im Blog veröffentlicht.

Die nächste Veranstaltung

Zum Schluss seines „Amtsjahres“ liest Pino Dietiker in der Mitte von Suhr – im Restaurant Dietiker, Alte Gasse 1. Ob da Verwandtschaften bestehen, wird am Freitag, 15. September, 19.30 Uhr zu vernehmen sein.


Die Wetterhexe von Suhr, Teil 3

Ein Zwerg hat Tim einen Tipp gegeben: Die Hexe, die für das Wetterchaos in Suhr verantwortlich sein soll, fände er nicht in der Bibliothek, sondern draussen in der Welt. Dort trifft er aber vorerst nur die Journalistin Frau Schneider, die nach einem Busunfall im Dorf gestrandet ist. Gemeinsam beschliessen sie, nach der Hexe zu suchen …

«Bist du sicher, dass wir hier nicht unsere Zeit verschwenden?», fragte Frau Schneider.

Tim war sich nicht sicher. Aber nachdem er nochmals über die rätselhaften Antworten des Zwergs nachgedacht hatte, erinnerte er sich an die Fragen, und eine davon war gewesen, wo er nach einer Hexe suchen würde. Tims erstbester Gedanke war: im Wald. Und so hatten sie sich auf den Weg gemacht, waren unterwegs von einem heftigen Regenschauer überrascht worden, der aber zum Glück, als sie den Waldrand erreichten, bereits nachgelassen hatte. Frau Schneider zog ihren durchnässten Pullover aus und hängte ihn über den Arm, um die wieder steigenden Temperaturen auszugleichen.

«Wenn hier ein Sturm losgeht, sitzen wir ganz schön in der Klemme», sagte sie, in die Baumkronen blickend. Offensichtlich bereute sie, in der Hoffnung auf eine skurrile Lokalgeschichte mit Tim mitgegangen zu sein.

«Ich weiss», erwiderte er. Der Ausflug ins Grüne war wohl doch keine so gute Idee gewesen, doch blieb ihm nun mal kein anderer Anhaltspunkt.

«Du gehst in die Oberstufe, ja?», fragte Frau Schneider weiter. «Und dieser Zwerg, der von der Hexe gesprochen hat, wie sah er aus?»

«Wie ein kleiner Mann», erwiderte Tim ungeduldig. Der Zwerg interessierte ihn nicht im Geringsten. «Wir sollten lieber herausfinden, was die Wetterhexe will.»

«Wenn es sie überhaupt gibt», warf Frau Schneider ein. Aber dass es die Hexe gab, schien sie zu hoffen – sonst wäre sie bestimmt nicht mitgekommen.

Sie gingen einen leicht steigenden Waldweg entlang. Zu beiden Seiten des Weges standen die Tannen dicht an dicht. Tim fragte sich, ob es am Wetter lag, dass die Umgebung so düster wirkte. Doch über ihren Köpfen schien sogar die Sonne. Frau Schneider war allmählich stiller geworden, spähte zwischen die Bäume, als erwartete sie einen hervorspringenden Wolf. Immer mal wieder kamen sie an Vitaparcours-Posten vorbei. Bei einem Posten mit Turnringen verlor sie die Geduld. Sie blieb stehen, warf den Pullover hin und versetzte einem der Ringe einen Stoss.

«Das macht keinen Sinn», sagte sie. «Kehren wir um.»

«Nein», gab Tim zurück. Er war selbst erstaunt, wie er mit einer erwachsenen Frau redete, die seine Lehrerin hätte sein können.

«Was schlägst du vor?», fragte sie eingeschnappt.

«Nur noch ein kleines Stück», erwiderte er.

Er stoppte den Ring, der in seine Richtung schwang. Als ein krächzendes Geräusch ertönte, liess er ihn vor Schreck los. Kurz darauf flog ein Eichelhäher über ihre Köpfe hinweg. Frau Schneider lachte angespannt.

«Wenn wir diese Hexe nicht finden, dann muss ich wohl über Vögel schreiben», sagte sie.

Tim schüttelte seufzend den Kopf.

Langsam gingen sie weiter. Der Weg stieg an, bis sie am höchsten Punkt des Waldes angelangt waren. Gleich hier gab es einen Platz mit ein paar Bänken und einer Feuerstelle, den man «Suhrerchopf» nannte. In Ermangelung einer sinnvollen Idee steuerte Tim darauf zu. Der Grillplatz war leer und verlassen – was Tim den Suhrerinnen und Suhrern nicht verübeln konnte, denn der sonst so entspannende Blick über Suhr war besorgniserregend. Die eisigen Stürme hatten dem Dorf stark zugesetzt. Fast alle Dächer waren durchlöchert oder eingerissen, der Verkehr war zum kompletten Stillstand gekommen. Der nahe Kirchturm sah aus, als würde er im nächsten Moment einstürzen. Während Tim besorgt auf das Katastrophenszenario unter ihm blickte, stupste Frau Schneider ihn an und wies in den Himmel: Dort hatte sich wieder eine gigantische, schwarze Sturmwolke aufgetürmt. Würde sie sich entladen, so fürchtete Tim, hätte für die Suhrerinnen und Suhrer das letzte Stündlein geschlagen.

Plötzlich erklang ein hämisches Kichern, das ganz und gar nicht zu dieser düsteren Zukunftsvision passte. Tim drehte den Kopf und zuckte überrascht zusammen. Auf einer Bank in der Nähe sass der Zwerg. Wie in aller Welt war er ihnen unbemerkt gefolgt?

«Ist das der Zwerg von der Bibliothek?», fragte Frau Schneider. Sie war sichtlich aus der Fassung gebracht.

«Ist deine Tante nicht etwas unhöflich?», fragte der Zwerg in Tims Richtung zurück. «So klein bin ich auch wieder nicht.»

«Sie ist nicht meine Tante», wehrte Tim ab.

Ohne darauf einzugehen, ergänzte der Zwerg: «Und übrigens habe ich einen Namen. Und zwar heisse ich …»

Es folgte eine seltsame Pause. Noch während sich Tim fragte, ob der Zwerg seinen eigenen Namen vergessen hatte, begann dieser seine Gestalt zu verändern. Die Luft flimmerte seltsam, ein flüchtiger Schatten huschte vorüber, und wo Augenblicke zuvor noch ein kleinwüchsiges Männlein gesessen war, sass nun ein gewöhnliches Mädchen, etwa im selben Alter wie Tim.

Frau Schneider, die die ganze Szene ungläubig beobachtet hatte, stellte mit schwankender Stimme die Frage, die auch ihm sofort durch den Kopf schoss: «Bist du die Wetterhexe?»

Das Mädchen lächelte. «Ihr mögt mich wohl so nennen. Aber als ich noch zur Schule ging, hatte ich einen Namen, und zwar …»

Fortsetzung folgt …

Die Wetterhexe von Suhr – Teil 2

Mitten im Juli wird Suhr von seltsamen Wetterwechseln heimgesucht. In einer Minute hagelt es, in der nächsten herrscht brütende Hitze. Tim, ein Suhrer Oberstufenschüler, will der Sache auf den Grund gehen. Auf der Suche nach Antworten trifft er in der Gemeindebibliothek auf eine seltsame Gestalt …

«Ich weiss, wen du suchst»

Noch ehe sich Tim darüber klar werden konnte, wer da vor ihm stand, verschwand die Gestalt zwischen den Regalen im hinteren Teil der Bibliothek. Wenn er sich nicht täuschte, hatte soeben ein alter, kleiner Mann mit ihm gesprochen, ein Männlein, geradezu ein Zwerg. Verwirrt spähte er umher, konnte ihn aber nicht mehr entdecken.

«Hallo?», fragte er.

Keine Antwort.

Tim wurde die einsetzende Stille unheimlich. Ausserdem erregte er schon ungewollt die Aufmerksamkeit der Dame an der Rezeption, die ihn beobachtete. Zuerst wollte er in Richtung Ausgang an ihr vorbeischlüpfen, doch dann fasste er sich ein Herz und trat an die Theke.

«Ich suche jemanden.» Er räusperte sich.

«Ja?», fragte die Dame. «Wen suchst du denn?»

«Einen älteren Herrn. Er hat einen Buckel und ist so gross.» Tim schüttelte nervös die Hand in der Luft, über der Höhe seines Knies. War der Mann tatsächlich so klein gewesen? «Er hat gesagt, er wisse, wenn ich suche.»

Beim letzten Satz warf die Dame Tim einen irritierten Blick zu. Trotzdem blieb sie höflich.

«So einen Herrn habe ich hier nicht gesehen, tut mir leid.»

«Sind Sie sicher?», hakte er nach.

«Hierher kommen keine alten kleinen Herren», erwiderte sie überzeugt.

«Auch nicht um diese Tageszeit?»

«Um diese Tageszeit schon gar nicht.»

«Ja gut», meinte Tim enttäuscht und wandte sich ab. Er schlenderte zum Ausgang, nicht ohne noch einen letzten Blick über die Schulter zu werfen. Da sah er den kleinen Mann wieder. Er war gerade dabei, auf ein Regal zu klettern. Obwohl das einen furchtbaren Lärm verursachte, da er mit den Füssen die Bücher zu Boden schleuderte, tat die Dame so, als hörte sie nichts, und nahm stattdessen eine Zeitschrift zur Hand. Je höher der Zwerg kletterte, desto lauter schnaufte er, und als er sich, nachdem er beinahe den Halt verloren hatte, auf das oberste Regal plumpsen liess, gab er ein zufriedenes Grunzen von sich. Tim ging zur Stelle, wo der Zwerg auf seinem Regal thronte. Flüchtig sah er auf die Bücher, die am Boden lagen: Pferderomane.

«Und wen suche ich?», frage Tim.

Der Zwerg liess sich Zeit mit der Antwort. Er nahm ein Taschentuch hervor und schnäuzte ausgiebig hinein, bevor er es wieder einsteckte.

«Das weiss ich genau», erwiderte er endlich.

«Dann sag es mir», bat Tim.

«Kommt ganz darauf an, warum du diese Person suchst. Ist es wegen des Wetters?»

«Ja», sagte Tim, froh, auf der richtigen Spur zu sein. «Deswegen bin ich in die Bibliothek gekommen. Ich will wissen, was mit unserem Wetter los ist. Kannst du mir weiterhelfen?»

«Ich nicht, aber die Person, die du suchst», meinte der Zwerg. «Die Wetterhexe. Sie kann dir alles erklären.»

«Und wo finde ich diese Wetterhexe?», fragte Tim hoffnungsvoll.

«Wo würdest du nach einer Hexe suchen?»

«Ich weiss es nicht.»

«Doch nicht in einer Bibliothek, oder?»

Tim zuckte mit den Achseln.

Der Zwerg wurde ungeduldig. «Du hast wohl nicht viel Köpfchen, wie? Was ich damit sagen will: Du musst nach draussen in die Welt. Vor der Tür, nicht zwischen zwei Buchdeckeln wirst du sie finden.»

Mit diesen Worten nahm der Zwerg ein Buch und schlug es auf. Tim sah ihm eine Weile beim Lesen zu. Immer mehr versank der Zwerg in seinem Buch, bis es schien, als sei er eingenickt. Da keine Antwort mehr von ihm zu erwarten war, machte sich Tim auf den Weg; als er an der Rezeption vorbeiging, löste die Dame ein Kreuzworträtsel.

Währenddessen scheiterte eine junge Frau an den Widrigkeiten des Suhrer Wetters. Sie arbeitete als Journalistin für eine Regionalzeitung. Die Zeitung hatte anfänglich alle Meldungen von Polizei und Feuerwehr gesammelt und weiterverbreitet. Allmählich waren die geschilderten Katastrophenszenarien aber so widersprüchlich erschienen, dass Frau Schneider sich die Sache vor Ort ansehen wollte. Aber kurz vor der Station Waldhofweg war ihr Bus auf einem vereisten Strassenabschnitt ins Schleudern geraten und am Strassenrand stehengeblieben. Als sie mit den anderen Passagieren ausstieg, erschauderte sie: nicht nur war es bitterkalt, sogar Schneeflocken fielen vom Himmel – und das im Juli. War an den Berichten also doch etwas dran gewesen? Und warum hatte in Aarau noch alles so sommerlich-ruhig gewirkt? Während sie noch darüber rätselte, klingelte ihr Handy. Der Feuerwehrkommandant, den sie vor der Zentrale treffen sollte, kam nicht mehr aus der Wohnung, weil angeblich eine Strassenlaterne vor seine Haustür gefallen war. Besorgt war sie deswegen schon, trotzdem musste sie lachen, weil es wie die Ausrede eines faulen Schülers klang. Der Kommandant legte mit einem wütenden Brummen auf.

Nun musste sie indes feststellen, dass sie sich in der Zwickmühle befand. Ohne Kommandant kein Artikel, und was tat sie in Suhr, wenn sie keinen Artikel darüber schreiben konnte? Aber vielleicht war ja noch nicht alles verloren. Sie beschloss, beim Gemeindehaus anzuklopfen, vielleicht konnte man ihr dort weiterhelfen. Der Weg dorthin stellte sich allerdings als Tortur heraus, denn die Strassen waren komplett vereist. Auf der Höhe der Bibliothek staunte sie nicht schlecht: Da hockte ein Schüler vor etwas, das wie ein Kanu aussah, und schien nicht recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte.

«Alles in Ordnung?», fragte sie ihn.

«Wer sind Sie? Sind Sie die Wetterhexe?», fragte er zurück.

«Die was?»

«Ich suche die Wetterhexe», erklärte er. «Der Zwerg in der Bibliothek sagte mir, ich würde ihr draussen vor der Tür über den Weg laufen.»

«Ich bin keine Hexe», sagte Frau Schneider. Da erfasste sie ein unbestimmtes Gefühl. Sie wusste zwar nicht warum, aber irgendwie hatte sie die Ahnung, unverhofft einer guten Geschichte auf der Spur zu sein. «Aber wenn du willst, helfe ich dir bei der Suche.»

Fortsetzung folgt …       

Die Wetterhexe von Suhr

An einem frühen Julimorgen fiel eine Schneeflocke in die Suhre.

Sie erregte kein Aufsehen und verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Auch die Wolke, aus der sie fiel, schien den Suhrerinnen und Suhrern nicht weiter ungewöhnlich: Sie sah völlig harmlos aus und wirkte wie der Vorbote eines sonnigen Tages. Selbstredend gab es nur wenige, die die Flocke in der Morgenstunde überhaupt bemerkten, und die Menschen, die es taten, hielten sie für ein Stäubchen, oder einen Überrest Blütenstaub, den der Wind aus der Krone eines nahen Baumes geweht hatte. Einzig ein Hundespaziergänger, unterwegs Richtung Bärenmatte, sagte später, er habe die Katastrophe erwartet – sein Hund habe beim Überqueren der Brücke den Fluss angebellt.

Der Tag, an dem die Flocke fiel, war ein Mittwoch. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe freuten sich auf ihren freien Nachmittag. Ihre Freude wurde gedämpft, als sie nach draussen stürmten und feststellen mussten, dass die Temperatur inzwischen um mindestens zwanzig Grad gesunken war. Der Platz vor dem Bezirksschulhaus war stellenweise mit Eis bedeckt. Tim, einer der Schüler, die als Erstes auf den Platz rannten, rutschte auf dem Eis aus und schlug sich den Kopf am Boden an. Seine Klassenkameraden sagten später, er habe sich in jenem Moment nicht nur eine Beule zugezogen, sondern auch seine wirre Idee von der Wetterhexe.

Als Tim mit Kopfschmerzen zuhause ankam, hatte ein Schneeregen eingesetzt, der die Bachstrasse in kürzester Zeit in einen schlammigen Pfuhl verwandelte. Vom Fenster seines Zimmers aus beobachtete er, wie ein starker Wind die Äste von den Bäumen riss und über die Strasse schleuderte. Eine Radfahrerin hatte Pech, als ihr ein Ast zwischen die Speichen geriet. Sie stürzte und humpelte, das Rad neben sich herschiebend, zu einem Unterstand.

Um zehn Uhr wurde es dunkel und die Suhrer Strassen leerten sich, doch es kehrte längst keine Ruhe ein, im Gegenteil: im Bett liegend, hörte Tim, wie Hagel gegen das Fenster trommelte. Er hoffte, dass die Scheiben der prasselnden Wucht standhielten. Die Eltern sassen in der Stube und sahen fern; gedämpft drang die Stimme des Nachrichtensprechers zu ihm herauf: «Schlimmstes Unwetter in Suhr seit Jahren … ein Dorf im Ausnahmezustand …» Die Worte wurden von einem Donnergrollen verschluckt. Kurz darauf folgten ein helles Licht und ein ohrenbetäubender Knall. Ganz in der Nähe war der Blitz in einen Baum eingeschlagen.

Die Lage beruhigte sich erst gegen fünf Uhr morgens. Als Tim nach der schlaflosen Nacht frühstückte, schien sogar wieder die Sonne. Sein Kopf tat nicht mehr weh und das Unwetter von gestern wirkte nunmehr wie ein schlechter Traum. Froh um den blauen Himmel, aber zugleich etwas enttäuscht darüber, dass die Schule wegen des «Ausnahmezustands» nicht geschlossen hatte, radelte er zum Unterricht. Er dachte an die Worte des Nachrichtensprechers zurück. Was war mit den anderen Orten? Hatte es die nicht getroffen? Warum Suhr? Warum nicht Aarau, Buchs, Gränichen? Er versuchte sich einen Reim darauf zu machen, aber der Deutschtest, den er vormittags schreiben musste, liess es nicht zu. Darüber hinaus stellte sich bald ein neues, seltsames Problem: Am Nachmittag kletterten die Temperaturen so stark in die Höhe, dass sich die Schulzimmer in regelrechte Öfen verwandelten. An Konzentration war bei dieser unwirklichen Hitze nicht mehr zu denken – der Mathematiklehrer liess die Stunde vorzeitig ausfallen.

Zuerst Schnee und Sturm, und jetzt das. Einigermassen ratlos standen Tim und seine Kameraden auf dem Pausenplatz und wussten nicht, was sie mit sich anfangen sollten. Der lästige Unterricht fiel zwar aus, andererseits war das Wetter viel zu heiss, um vernünftig Fussball zu spielen. Tim schleppte sich nach Hause. Die Mutter hatte im Wohnzimmer das Radio angeschaltet. Er lauschte der Stimme, die verkündete: «Rekordhitze in Suhr … Brunnen ausgetrocknet …»

«Mama?», fragte er laut.

«Ja?» Seine Mutter stellte schwitzend einen Sonnenschirm auf der Terrasse auf.

«Passiert das nur in Suhr?»

«Ja, nur in Suhr», erwiderte sie und fächerte sich Luft zu. Dabei machte sie eine überraschte Miene, als sei sie sich erst in diesem Moment dieser merkwürdigen Tatsache bewusst geworden.

«Ist das nicht seltsam?», hakte Tim nach. «Da stimmt doch etwas nicht.»

«Das Wetter tut, was es will», meinte die Mutter zögerlich.

«Ja», sagte er. «Irgendjemand muss es auf uns abgesehen haben.»

«Und wer?»

«Das weiss ich nicht. Aber ich werde es herausfinden.»

Tim beschloss, ins Gemeindehaus zu gehen. Vielleicht wussten die Behörden mehr darüber, wer dafür verantwortlich war und etwas gegen Suhr haben könnte. Als er sein Fahrrad aus dem Keller schob, waren die Quartiersstrassen jedoch vollständig von Wasser überflutet. Tim musste sein Transportmittel wechseln. Er verstaute das Fahrrad wieder im Keller und holte stattdessen das Kanu seines Vaters hervor. Damit paddelte er der Bachstrasse entlang, durchquerte das Dorfzentrum und kam schliesslich vor der Treppe des Gemeindehauses an. Mit trockenen Füssen ging er hinein und suchte den Einwohner- und Kundendienst auf. Der Mann am Schalter meinte mürrisch, man wisse nichts über das Wetter, er könne sich ja in der Bibliothek darüber schlau machen.

Tim hielt nicht viel von dieser Idee und bezweifelte, dass er die Antwort auf seine Frage in einem Buch finden würde. Da er indes nichts Besseres zu tun wusste, befolgte er den Rat, stieg wieder ins Kanu und stand kurze Zeit später mit durchnässten Kleidern (während der Fahrt war er umgekippt) zwischen den Bücherregalen. Es war unheimlich still; vor den Fenstern tanzten wieder die Schneeflocken.

Als er zur Abteilung mit den Sachbüchern gehen wollte, hörte er ein seltsames Kichern. Eine Stimme flüsterte: «Ich weiss, wen du suchst, mein Lieber.»

Tim sah sich um und erblickte eine gebückte Gestalt.

Fortsetzung folgt…

Gärten diesseits von Eden

Zum Abschied vom Gartenjahr

Die Dorfschreiberin fragte einen der Dorfpfarrer an, ob er aus seiner Perspektive etwas zum Thema «Gärten» beitragen möchte. Ganz abwegig ist dies nicht, spielt sich doch bereits die erste (und vielleicht bekannteste) Geschichte der Bibel in einem Garten ab. Es fragt sich sogar, ob die Utopie dieses Ur-Gartens nicht als Sehnsuchtsort den Hintergrund aller biblischen Erzählungen bildet.

     In einem Garten soll mit den Menschen alles begonnen haben. Nicht nur sei die ganze Schöpfung «gut» gewesen. Besonders angenehm hätten es Adam und Eva im paradiesischen Eden gehabt. Schön warm war es, Kleider brauchten sie keine. Und auch gutes und frisches Essen boten die Bäume, die der Schöpfer für seine beiden vegetarischen Gäste aus dem Erdboden wachsen liess, mehr als genug. Wäre in Adam und Eva nicht die sehr menschliche Frage erwacht, ob ihnen mit diesem «Grundeinkommen» nicht doch etwas fehlen würde, unser aller Ur-Eltern würden noch heute glücklich, nackig und ein wenig naiv in ihrem Gärtchen leben.

     Allerdings will diese alte Erzählung weder ein Märchen sein noch die wissenschaftlich genaue Darstellung des Beginns der Menschheitsgeschichte. Mythisch berichtet sie von dem, «was niemals war und immer ist» (Sallust) und stellt dabei die grosse Frage nach den «grundlegenden Lebensordnungen der Welt» (Zürcher Bibel): Was bedeutet es, in einer Welt zu leben, die zwar auf das «Gute» hin geschaffen, zugleich aber auch von erschreckend viel Ungutem durchzogen ist?

     Als Menschen leben wir immer schon diesseits von Eden. Wir freuen uns an den Gärten des Lebens, an ihrem Wachsen und Blühen, wissen aber auch, dass es unser Brot «im Schweisse unseres Angesichts» immer wieder neu zu verdienen gilt (und dass dies vielen Menschen bei aller Anstrengung kaum gelingt). Unsere Gärtnereien diesseits von Eden zu verrichten, bedeutet aber nicht, die Sehnsucht nach jenem «paradiesischeren» Garten aufzugeben. Könnte Gartenpflege nicht auch Sehnsuchtspflege sein? Es gesellen sich dann zu unseren privaten Gärten (an denen sich diejenigen, die sie haben, durchaus freuen sollen!) weitere Gärten: HEKS-Gärten zum Beispiel, in denen auch Flüchtlinge und Migranten/innen ihren Gartenanteil pflegen. Gemeinsame Gärten, in denen sich Menschen treffen können zum Spielen, Essen, Weinen und Lachen (beim Länzihuus planen wir einen solchen). Oder auch, wenn wir es in den Suhrer Gärten und auf den Suhrer Grünflächen vermehrt in aller Vielfalt einfach wachsen lassen. Etwa so wie es Franz von Assisi für die Klostergärten seines Ordens vorsah: Auch wenn diese Gärten der Klostergemeinschaft zur Ernährung dienten, sollte immer ein Teil des Gartens frei bleiben für wild wachsende Pflanzen. Sie erinnern an die in der Schöpfung liegende Kreativität und ihre überraschende Diversität. Möchten wir wirklich in einer Welt leben, in der alles von uns Menschen geplant oder sogar fabriziert ist?

     Meinen Text widme ich zwei Suhrerinnen, deren liebevoll-umsichtiges Verhältnis zu ihrem Garten mir als Dorfpfarrer besonders aufgefallen ist. Brigitte Wilhelm: Ich sehe sie am Zaun ihres Gartens an der Bachstrasse stehend mit jemandem plaudern. Und Ursula Wyss: Ich erinnere mich, wie wir beim Besuch zu ihrem 75. Geburtstag in ihrem vielfältig-wild wachsenden Gärtchen sitzen.

Andreas Hunziker