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Dietiker im Dietiker

Zum Abschluss seines Amtsjahrs als Suhrer Dorfschreiber trat Pino Dietiker in dem Lokal auf, das so heisst wie er: Am 15. September 2023 las er im Restaurant Dietiker einen Text über den Familiennamen Dietiker.

Bei seiner dritten und letzten Lesung als Suhrer Dorfschreiber erzählte Pino Dietiker von seiner Recherche nach Verwandten und Namensvettern, die ihn vom Friedhof in Suhr bis in die gefährlichsten Ecken Berlins, vom Fussballplatz im namensstiftenden Dietikon bis in den Dorfladen seines Heimatorts Thalheim führte. Er berichtete von seiner Entdeckung, dass er zuhause seit Jahren auf einem Designerstuhl der Möbelfirma Dietiker sitzt, und er bezifferte die «Dietiker-Dichte» von Suhr: Während 0,71 Prozent aller gegenwärtig in Suhr Begrabenen Dietiker heissen, tragen von den momentan in Suhr Lebenden nur 0,15 Prozent den Namen. Daraus abzuleiten, dass die Dietiker ein aussterbendes Geschlecht seien, wäre jedoch ein statistischer Kurzschluss, so der Autor Dietiker im Restaurant Dietiker.

In der Mitte von Suhr

„Suhr Süd“ am einen Ende, das Brügglifeld am anderen – beide hat Pino Dietiker bisher untersucht und – kann man das so sagen? – in Literatur verwandelt.

Hier bei der Lesung im Restaurant Sportplatz, die mit Bratwürsten endete. Der wunderbare Text wird leider woanders und nicht hier im Blog veröffentlicht.

Die nächste Veranstaltung

Zum Schluss seines „Amtsjahres“ liest Pino Dietiker in der Mitte von Suhr – im Restaurant Dietiker, Alte Gasse 1. Ob da Verwandtschaften bestehen, wird am Freitag, 15. September, 19.30 Uhr zu vernehmen sein.


Die Wetterhexe von Suhr – Teil 2

Mitten im Juli wird Suhr von seltsamen Wetterwechseln heimgesucht. In einer Minute hagelt es, in der nächsten herrscht brütende Hitze. Tim, ein Suhrer Oberstufenschüler, will der Sache auf den Grund gehen. Auf der Suche nach Antworten trifft er in der Gemeindebibliothek auf eine seltsame Gestalt …

«Ich weiss, wen du suchst»

Noch ehe sich Tim darüber klar werden konnte, wer da vor ihm stand, verschwand die Gestalt zwischen den Regalen im hinteren Teil der Bibliothek. Wenn er sich nicht täuschte, hatte soeben ein alter, kleiner Mann mit ihm gesprochen, ein Männlein, geradezu ein Zwerg. Verwirrt spähte er umher, konnte ihn aber nicht mehr entdecken.

«Hallo?», fragte er.

Keine Antwort.

Tim wurde die einsetzende Stille unheimlich. Ausserdem erregte er schon ungewollt die Aufmerksamkeit der Dame an der Rezeption, die ihn beobachtete. Zuerst wollte er in Richtung Ausgang an ihr vorbeischlüpfen, doch dann fasste er sich ein Herz und trat an die Theke.

«Ich suche jemanden.» Er räusperte sich.

«Ja?», fragte die Dame. «Wen suchst du denn?»

«Einen älteren Herrn. Er hat einen Buckel und ist so gross.» Tim schüttelte nervös die Hand in der Luft, über der Höhe seines Knies. War der Mann tatsächlich so klein gewesen? «Er hat gesagt, er wisse, wenn ich suche.»

Beim letzten Satz warf die Dame Tim einen irritierten Blick zu. Trotzdem blieb sie höflich.

«So einen Herrn habe ich hier nicht gesehen, tut mir leid.»

«Sind Sie sicher?», hakte er nach.

«Hierher kommen keine alten kleinen Herren», erwiderte sie überzeugt.

«Auch nicht um diese Tageszeit?»

«Um diese Tageszeit schon gar nicht.»

«Ja gut», meinte Tim enttäuscht und wandte sich ab. Er schlenderte zum Ausgang, nicht ohne noch einen letzten Blick über die Schulter zu werfen. Da sah er den kleinen Mann wieder. Er war gerade dabei, auf ein Regal zu klettern. Obwohl das einen furchtbaren Lärm verursachte, da er mit den Füssen die Bücher zu Boden schleuderte, tat die Dame so, als hörte sie nichts, und nahm stattdessen eine Zeitschrift zur Hand. Je höher der Zwerg kletterte, desto lauter schnaufte er, und als er sich, nachdem er beinahe den Halt verloren hatte, auf das oberste Regal plumpsen liess, gab er ein zufriedenes Grunzen von sich. Tim ging zur Stelle, wo der Zwerg auf seinem Regal thronte. Flüchtig sah er auf die Bücher, die am Boden lagen: Pferderomane.

«Und wen suche ich?», frage Tim.

Der Zwerg liess sich Zeit mit der Antwort. Er nahm ein Taschentuch hervor und schnäuzte ausgiebig hinein, bevor er es wieder einsteckte.

«Das weiss ich genau», erwiderte er endlich.

«Dann sag es mir», bat Tim.

«Kommt ganz darauf an, warum du diese Person suchst. Ist es wegen des Wetters?»

«Ja», sagte Tim, froh, auf der richtigen Spur zu sein. «Deswegen bin ich in die Bibliothek gekommen. Ich will wissen, was mit unserem Wetter los ist. Kannst du mir weiterhelfen?»

«Ich nicht, aber die Person, die du suchst», meinte der Zwerg. «Die Wetterhexe. Sie kann dir alles erklären.»

«Und wo finde ich diese Wetterhexe?», fragte Tim hoffnungsvoll.

«Wo würdest du nach einer Hexe suchen?»

«Ich weiss es nicht.»

«Doch nicht in einer Bibliothek, oder?»

Tim zuckte mit den Achseln.

Der Zwerg wurde ungeduldig. «Du hast wohl nicht viel Köpfchen, wie? Was ich damit sagen will: Du musst nach draussen in die Welt. Vor der Tür, nicht zwischen zwei Buchdeckeln wirst du sie finden.»

Mit diesen Worten nahm der Zwerg ein Buch und schlug es auf. Tim sah ihm eine Weile beim Lesen zu. Immer mehr versank der Zwerg in seinem Buch, bis es schien, als sei er eingenickt. Da keine Antwort mehr von ihm zu erwarten war, machte sich Tim auf den Weg; als er an der Rezeption vorbeiging, löste die Dame ein Kreuzworträtsel.

Währenddessen scheiterte eine junge Frau an den Widrigkeiten des Suhrer Wetters. Sie arbeitete als Journalistin für eine Regionalzeitung. Die Zeitung hatte anfänglich alle Meldungen von Polizei und Feuerwehr gesammelt und weiterverbreitet. Allmählich waren die geschilderten Katastrophenszenarien aber so widersprüchlich erschienen, dass Frau Schneider sich die Sache vor Ort ansehen wollte. Aber kurz vor der Station Waldhofweg war ihr Bus auf einem vereisten Strassenabschnitt ins Schleudern geraten und am Strassenrand stehengeblieben. Als sie mit den anderen Passagieren ausstieg, erschauderte sie: nicht nur war es bitterkalt, sogar Schneeflocken fielen vom Himmel – und das im Juli. War an den Berichten also doch etwas dran gewesen? Und warum hatte in Aarau noch alles so sommerlich-ruhig gewirkt? Während sie noch darüber rätselte, klingelte ihr Handy. Der Feuerwehrkommandant, den sie vor der Zentrale treffen sollte, kam nicht mehr aus der Wohnung, weil angeblich eine Strassenlaterne vor seine Haustür gefallen war. Besorgt war sie deswegen schon, trotzdem musste sie lachen, weil es wie die Ausrede eines faulen Schülers klang. Der Kommandant legte mit einem wütenden Brummen auf.

Nun musste sie indes feststellen, dass sie sich in der Zwickmühle befand. Ohne Kommandant kein Artikel, und was tat sie in Suhr, wenn sie keinen Artikel darüber schreiben konnte? Aber vielleicht war ja noch nicht alles verloren. Sie beschloss, beim Gemeindehaus anzuklopfen, vielleicht konnte man ihr dort weiterhelfen. Der Weg dorthin stellte sich allerdings als Tortur heraus, denn die Strassen waren komplett vereist. Auf der Höhe der Bibliothek staunte sie nicht schlecht: Da hockte ein Schüler vor etwas, das wie ein Kanu aussah, und schien nicht recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte.

«Alles in Ordnung?», fragte sie ihn.

«Wer sind Sie? Sind Sie die Wetterhexe?», fragte er zurück.

«Die was?»

«Ich suche die Wetterhexe», erklärte er. «Der Zwerg in der Bibliothek sagte mir, ich würde ihr draussen vor der Tür über den Weg laufen.»

«Ich bin keine Hexe», sagte Frau Schneider. Da erfasste sie ein unbestimmtes Gefühl. Sie wusste zwar nicht warum, aber irgendwie hatte sie die Ahnung, unverhofft einer guten Geschichte auf der Spur zu sein. «Aber wenn du willst, helfe ich dir bei der Suche.»

Fortsetzung folgt …