«Blüemlibalkon» hoch über der belebten Suhrer Bachstrasse. Über mir die sengende Sonne, unter mir ein buntes Stimmengewirr und vor mir – Flavia Bindschedler: siebzehn Jahre alt, Gelegenheitsperfektionistin und leidenschaftlicher Musicalfan.
Eigentlich sind die Eltern schuld, wie so oft. Für Flavia ist das aber nicht so schlimm – im Gegenteil: statt Hannah Montana oder DJ BoBo hörte Flavia zu Hause schon früh Jazz- und Swing-Klassiker wie Frank Sinatra und Louis Armstrong und sah sich Musicalfilme an. Kein Wunder also, ist sie heute begeisterte Musicalsängerin und träumt von einer Solorolle. Dass das schwer wird, weiss Flavia natürlich, doch die Vision treibt sie immer wieder an. Und Träume sind ja auch dazu da, wahr zu werden.
Angefangen hat alles mit dem berühmten Musical «My Fair Lady», in dem sich ein Sprachprofessor in die Blumenverkäuferin Eliza Doolittle verliebt und ihr Sprachunterricht erteilt, um ihr die Gassensprache auszutreiben – mit unerwarteten Folgen und einem versöhnlichen Ende. Faszinierend sei es, sagt Flavia, wie die Darsteller in Musicals alles miteinander vereinen. Gesang, Schauspiel, manchmal auch Tanz. Man müsse 100 Prozent professionell sein, um die Koordination und die einzelnen Elemente perfekt zu beherrschen: «Das sind halt einfach die, die’s können. Nicht die, die alles tausend Mal aufnehmen und bearbeiten. Das ist nicht wie im Plattenstudio. Auf der Bühne gibt es nur eine Chance. Und die musst du packen.»
Flavia weiss, wovon sie spricht: Im Stück «luca@aisha» stand sie vor einiger Zeit selbst auf der Bühne. Eine Ensemblerolle. «Es war eine coole Erfahrung, mit diesen Künstlern, die ihr Geld auf der Bühne verdienen, zusammenzuarbeiten. Und es ist toll zu sehen, wie so eine Produktion entsteht, was alles dahintersteckt. Es ist genial, in die Probe zu kommen und Musik, die noch nie jemand gehört hat, performen zu können, die Ideen eines anderen verwirklichen zu dürfen.» Das ist es denn auch, was Flavia so fasziniert. Dieser ganze Entstehungsprozess, das unglaubliche Gefühl bei der Premiere, die Kunst, Schauspiel und Gesang auf der Bühne zu vereinen. Auf der Bühne fängt für sie ein neues Leben an, immer wieder. Die Bühne, das ist für sie eine andere Welt. «Man ist einfach so geflasht», sagt Flavia. «Du fragst dich die ganze Zeit: Wie kann ein Mensch so gut sein?!» Ihre Begeisterung ist unübersehbar, der Redeeifer und das Leuchten in den Augen machen deutlich, wie sehr sie dem Musical verfallen ist. Was sie nicht sagt: dass sie auch so weit kommen möchte. Dass sie diesen Traum hat. Den Traum von der Solorolle auf der grossen Bühne. – Der Sprung ins Rampenlicht – und in die Berühmtheit? Nein, das ist nicht das, was Flavia will. «Früher», sagt sie, «habe ich mir mit meiner Schwester oft die Fernseh-Castingshow DSDS angesehen, wo junge Leute über Nacht an den Pop-Himmel geschossen werden. Ich war schon beeindruckt von dem, was da abging, das gebe ich zu. Aber heut denke ich mir: Okay, die Blonde da hat Busen, gut und recht, doch wo ist ihre Stimme? – Ich denke schon, dass man durch Castingshows am schnellsten berühmt wird und Geld verdient», sagt Flavia und runzelt die Stirn. «Aber das ist nicht das, was ich will. Mir ist ehrliche Arbeit lieber.»
Musical ist aber nicht das einzige an der Musik, was Flavia so begeistert. Sie spielt Gitarre, Ukulele, Klavier – und da sollen noch einige andere Instrumente hinzukommen. Zudem erforscht sie instrumental und stimmlich alle möglichen musikalischen Genres und fühlt sich mittlerweile von Jazz bis Mainstream-Pop fast überall zu Hause. Apropos: Noch wohnt Flavia bei ihrer Mutter, doch das soll sich möglichst bald ändern, weil sie unabhängig sein und sich etwas Eigenes aufbauen möchte.
Zum ersten Mal, seit wir es uns auf dem Blüemlibalkon gemütlich gemacht haben, stockt Flavias Redefluss. Sie schaut über die Bachstrasse hinweg in eine unbestimmt Ferne. Die Zukunft? Ziele? Gibt es, klar; hat sie, natürlich. Zum Beispiel möchte sie später mal nicht mehr in der Schweiz leben. Sie will kein 08.15-Leben führen. «Jeden Tag aufstehen und arbeiten und schlafen – das ist mir einfach zu spiessig, zu langweilig», sagt sie und schaut mich an. «Ich möchte ein spannendes Leben führen. Ein Leben am Rand wär für mich kein Problem. Alles aufs Existenzielle reduziert. Ich träume immer von einem Leben in Afrika. Diese Lebensfreude, diese Herzlichkeit – die Bongos und die anderen Instrumente, deren Namen wir nicht einmal kennen. Ja, ich würde gern mal dort leben, wo die Menschen wirklich wenig haben. Weil die so glücklich sind über die kleinsten Sachen; das finde ich einfach wunderschön, denn hier sind die meisten oft schlecht gelaunt, und alles geht immer nach Plan und Schema F. Ich möchte irgendwohin, wo alles offen und frei ist und wo ich etwas erleben kann.»
Jetzt sitzt Flavia ganz entspannt auf «ihrem» mit Petflaschenblumen dekorierten Blüemlibalkon, eine Tasse Kaffee in der Hand. – Wer ist diese junge Frau? Was steckt hinter der Fassade? Sie selber hält sich für eine verrückte Person. Ab und zu sei sie eine Perfektionistin, sagt sie. Doch, was ihr viel wichtiger ist: einfach das Beste geben. «Es muss nicht immer alles perfekt sein, aber ich gebe gern in jeder Situation mein Bestes, weil es sich für mich richtig anfühlt und weil ich Dinge richtig gut machen will. Aus Überzeugung.» Und sonst? Das Leben will sie geniessen, und sie hält nichts von hochnäsigen Menschen oder solchen, die nur auf ihre Probleme fixiert sind. Sie will leben, frei sein, die Welt sehen, Verrücktes tun. Und sie liebt den Regen. Im Sommer geht sie hinaus in die Natur, macht Sport oder geht einfach nur spazieren mit ihrem treuen Begleiter, der Fotokamera.
Die junge Frau, die mir gegenübersitzt, ist wirklich kein 08.15-Typ. Sie will raus, nicht nur auf den Balkon, etwas erleben – und trotz ihres Freiheitsdrangs und ihrer offenen Einstellung ist Flavia immer top organisiert. Das behauptet sie wenigstens, aber man glaubt ihr sogar das.
Und wie passt jetzt Afrika zusammen mit der Karriere als Musical-Darstellerin? Ihr eigener Erfolg sei ihr zwar wichtig, sagt sie, aber sie setze sich auch gerne für andere ein. Das sei doch kein Widerspruch.
Die Umwelt spielt für sie eine sehr grosse Rolle. Hätte sie viel Geld zur Verfügung, würde sie anderen helfen. «Für mich würde ich nur so viel behalten, wie ich zum Leben und zum Reisen brauche. Den Rest würde ich spenden, an Menschen, die das Geld wirklich brauchen. Auf jeden Fall möchte ich etwas Gutes damit tun.»
Flavia trinkt den letzten Schluck Kaffee, schaut lange auf den Boden der leeren Tasse. Nachdenklich, aber zufrieden. Hat sie den Sinn des Lebens gefunden? Schon mit 17 Jahren? Nicht den Sinn des Lebens, vielleicht, sagt sie, aber sie kann sich vorstellen, was ein sinnvolles Leben sein könnte. Dazu gehört, einen Ort zu finden, wo sie sich zu Hause fühlt. Und dazu gehört, im Leben etwas zu erreichen, von dem sie behaupten kann, dass es etwas Gutes ist und dass es auch anderen Menschen hilft. So möchte sie leben. «Jeden Tag mit einem Lachen aufstehen und glücklich sein. Es gelingt nicht immer, aber ich versuche es. Du kannst so viel Pech haben, aber mit der richtigen Einstellung kannst du trotzdem glücklich sein! Ja, das ist es, irgendwie, auch wenn es komisch klingt: Glück besteht für mich darin, glücklich zu sein.»
Flavia wird das Glücklichsein noch lange üben können. Nach den Sommerferien nicht mehr an der Bezirksschule, sondern an der Kanti. Noch lieber wäre sie nach Hamburg gezogen, um eine Ausbildung an der Musicalschule zu machen. Doch inzwischen hat sie Alternativen in der Schweiz gefunden, die es ihr ermöglichen, auch neben der Schule noch an ihrer Leidenschaft weiterzuarbeiten. «Es ist mir zu riskant, schon jetzt voll auf die Karte Musik zu setzen», sagt sie. «Und ich weiss auch nicht, ob Musicals zu singen so wirklich meine Bestimmung ist. Vielleicht werde ich auch Musikerin. Ich möchte mich einfach noch nicht festlegen, möchte mir noch alles offen lassen.» Ihren Weg kennt Flavia also noch nicht; wo er hinführen soll, ist aber jetzt schon klar: In zehn Jahren will sie ein abgeschlossenes Studium haben, irgendwo anders leben, sich für den Umweltschutz engagieren und eine Musicalausbildung absolvieren. Später in der Entwicklungshilfe arbeiten, im Umweltschutz etwas bewegen, vielleicht irgendetwas erforschen – und natürlich mit der Musik weitermachen, Leute begeistern. «Ich würde gerne mal andere Menschen mit meiner Musik berühren. Aber grundsätzlich möchte ich einfach versuchen, diese Welt etwas besser zu machen – und andere davon zu überzeugen, dass sich das lohnt.»
Flavia schlägt sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, als wollte sie sagen: genug gequatscht. Sie sagt es nicht, aber sie schmunzelt – und holt im Zimmer die Ukulele.
Die Petflaschenblumen glänzen in der Sonne.
Ursina Mühlethaler